Ich werde Soldat

 

 

 

An einem heißen Sommermorgen im Jahre 1929 durchschritt ich zum erstenmal das Kasernentor von West Point. In diesem Augenblick übernahm — höchst leichtfertigerweise — die US-Regierung meine weitere Ausbildung. Was während der nun folgenden Stunden und Wochen mit mir geschah, habe ich so recht nie auseinanderhalten können. Zwar erinnere ich mich verschwommen an eine Horde von älteren Kadetten oder »Brotsäcken«, die mich anraunzten und sich die Stimmen heiser brüllten, aber was sie eigentlich von mir wollten, ist mir bis heute schleierhaft geblieben. Einige verlangten, ich solle meinen Koffer aufnehmen, andere, ich solle ihn hinsetzen. Einige wollten mich laufen sehen, andere langsam marschieren, und wieder andere wünschten, daß ich stocksteif Stillstand, Kinn auf dem Adamsapfel, Schulterblätter beinahe zusammengefaltet. Das sei Disziplin und außerordentlich bekömmlich, wurde uns — den »Schnappsäcken« — mitgeteilt. Aber schon nach lumpigen dreihundertsechzig Tagen schüttelten uns die alten Kadetten die Hand und sagten, nun seien wir »aufgenommen« und brauchten sie nicht mehr mit »Herr« anzureden. Wir waren schrecklich froh darüber und warteten begierig auf den Einmarsch des nächsten Kadetten-Jahrgangs durchs große Tor, damit nunmehr wir über ihn herfallen durften.

Genau fünfzehn Jahre später zwang mich Uncle Sam wieder in meine ursprüngliche Soldatenlaufbahn zurück. Diesmal führte der Weg durch die Bodenluke eines umgebauten Bombers in eine pechschwarze und nicht sehr verlockende Nacht irgendwo über Nordengland. Ich landete mit einem Bums auf einer harten Kuhweide, etwas benommen, doch mit mir und meinem Fallschirm höchst zufrieden. Man bescheinigte mir, daß ich nun »Fallschirmjäger Dritter Klasse« sei, und teilte mich General Bill Donovan als ausgebildeten Agenten zu. Seit dieser Zeit suche ich vergebens jemanden, der »Fallschirmjäger Vierter Klasse« ist. Offensichtlich wird eine Bescheinigung darüber nur posthum ausgestellt.

Doch zurück zum Anfang. Alle Leute fragen danach, warum man West Point absolviert hat, wenn man doch in den diplomatischen Dienst wollte. Einige Exkadetten antworten, sie seien nach West Point gegangen, weil sie Soldaten werden wollten; andere sagen, die dortige Erziehung habe sie gereizt; wieder andere werden in schöner Offenheit zugeben, daß sie nur den einzigen Wunsch hatten, in der Armee-Fußballmannschaft zu spielen. Auf mich persönlich — fürchte ich — paßt keine dieser Antworten.

Seit meinem achten Lebensjahr habe ich ununterbrochen mit irgendwelchen Staatsstellen geliebäugelt. Zuerst wollte ich zur Polizei oder zur Feuerwehr, dann kam die Marine an die Reihe, dann die Armee und endlich der diplomatische Dienst. Bei dieser Neigung sollte der Staat, wenn er wollte, ruhig meine Erziehung übernehmen. Darüber hinaus aber gab es noch einen weiteren, ebenso zwingenden Grund — nämlich Fußball. Nicht etwa, daß ich mitspielen wollte. Ganz im Gegenteil!

Etliche Jahrzehnte hindurch hatten meine Onkel, mein Vater und mein Bruder die Universität von Pennsylvanien besucht, wo sie die Fußballmannschaft angeführt, in verschiedenen hochfavorisierten Spitzenteams geglänzt und sich überhaupt der Rolle von Fußballheroen erfreut hatten. Doch schon auf der Schule machten meine Sportlehrer und ich eine Entdeckung, die, obwohl nicht von öffentlichem Interesse, für mich persönlich jedoch ungemein wichtig wurde: Ich war kein Fußballspieler! Drei Jahre lang gehörte ich der letzten Schulmannschaft an und wurde im vierten sogar Kapitän, freilich nicht wegen sportlicher Heldentaten, sondern wegen überwältigender Seniorität. Die Sportlehrer waren nicht schuld daran. Sie erinnerten sich an meinen Vater, Onkel, Bruder etc. und hatten getan, was sie konnten, um das ihrer Überzeugung nach in mir schlummernde Fußballtalent zu wecken. Nach Jahren harten Ringens jedoch schüttelten sie trostlos ihre Häupter und gaben bekümmert zu, daß ich mich keineswegs plangemäß entwickelte.

So war ich, als meine Collegezeit heranrückte, in einem Punkte eisern entschlossen: Ich würde nicht Fußball spielen oder auch nur versuchen, Fußball zu spielen! Und schon gar nicht würde ich die pennsylvanischen Trainer auf Kosten meiner Gesundheit und meiner guten Laune mit mir herumexperimentieren lassen, bis auch sie entdeckten, was ich unter so vielen Schmerzen gelernt hatte: daß ich nicht Fußball spielen konnte!

Ergo plante ich, stillheimlich mit der Pennsylvania-Fußballtradition zu brechen und mich unauffällig nach West Point zu verdrücken. Doch ich hatte nicht mit der Fußballausbildung der Armee gerechnet. Wir waren knapp eine Woche im »Affenkasten«, als auch schon die gesamte Anfängerklasse auf den Fußballplatz getrieben wurde, um zu zeigen, was sie konnte. Ich erklärte dem diensthabenden Offizier so höflich wie nur möglich, ich glaubte, sie verschwendeten nur ihre Zeit an mich. So unhöflich wie nur möglich wurde mir erwidert, wer zum Fußballspiel tauge und wer nicht, würden die Trainer feststellen. Ganz wenige Stunden »Affenkasten« sind erforderlich, einem beizubringen, daß man mit Vorgesetzten besser nicht diskutiert. Ich zuckte also im Geiste meine Schultern, rannte in Steilvorlage und griff mutig einen Kraftprotzen aus dem Mittelwesten an. Er traf mich mit dem Knie am Ohr. Der Trainer schaffte es, mich in wenigen Minuten wieder zur Besinnung zu bringen. Dann befahl jemand dem Kadetten Thayer, eine Paßvorlage zu schnappen. Ich rannte, so schnell ich konnte, doch die Paßvorlage schnappte mich und landete elegant, aber schmerzvoll mitten in meinem Gesicht. Während ich mich langsam wieder aufrappelte, meinte ein optimistischer Trainer: »Vielleicht ist er ein Läufer.« Man gab mir einen Ball, und elf biedere Mitschüler der anderen Mannschaft stürzten sich auf mich, ehe ich überhaupt angefangen hatte zu laufen. Schließlich wurden die Beweise überwältigend, und der diensthabende Offizier sagte, ich könne es am nächsten Tag mit Schlagball »versuchen«.

Während ich ein, zwei Wochen lang die Runde über sämtliche Sportanlagen machte, zerbrachen sich die Sportlehrer die Köpfe darüber, wohin ich denn wohl paßte. Gefragt wurde ich natürlich nicht. Das wäre zu einfach gewesen. Schlagball, Basketball, Hockey, Boxen, Ringen — ich »versuchte« alles.

Und dann verlas der Adjutant eines Tages in der Messe unter anderem: »Kadett Thayer hat sich heute nachmittag bei der Fußball-Abteilung zu melden.« Voll düsterer Ahnungen zog ich die Fußballkluft an und marschierte auf den Platz hinaus. Inzwischen war aus den Mannschaften alles Schwächliche, Untaugliche ausgemerzt worden, und die durchschnittliche Kraft, Energie und Wirksamkeit der Gruppe hatte sich entsprechend erhöht.

Einer der unteren Trainer schnauzte mich an: »Sind Sie irgendwie mit dem Fußballmeister vom vorigen Jahr verwandt?« Ich gab es zu, begann jedoch hastig zu erklären, daß mein Bruder das Familienfußballtalent allein geerbt habe. Der Trainer unterbrach mich kurzangebunden: »Gehen Sie da unten ‘rüber und sehen Sie mal zu, was Sie machen können.«

Ich ging, und einige Minuten lang war alles, was ich machen konnte, mich von irgendeinem energiesprühenden Verbindungsläufer über den Haufen rennen zu lassen. Dann machte zur Abwechslung mal einer auf der Gegenseite was falsch, und ich sah mich urplötzlich Backe an Backe mit dem Mann, der den Ball hielt. Mit dem Mute der Verzweiflung griff ich ihn an, doch hatte er auf einmal unbegreiflicherweise seine Hand auf meinem Kopf, knallte ihn gegen sein hochschießendes Knie, rannte um meine Leiche herum und startete einen pfundigen Schuß. Man schleppte mich vom Platz, begoß mich mit Wasser und riet mir, ein paar Minuten auszuruhen. »Pech«, sagte der Sportlehrer tröstend. Offenbar glaubte er immer noch, eine Entdeckung gemacht zu haben, und duldete es nicht, daß meiner Fußballkarriere auch nur das geringste im Wege stand.

Seither bin ich verschiedentlich auf diesen Typ gestoßen. Im Iran zum Beispiel gab es einen Professor, der mir versicherte, wenn ich bloß lernte, in der richtigen Reihenfolge — nämlich von rechts nach links — zu lesen, könne er mir spielend Persisch beibringen. (Er hat es nie gekonnt.) Und in Cortina war ein italienischer Skilehrer, der, nachdem er mich in rasanter Geschwindigkeit den Übungshang hatte hinuntersausen sehen, feststellte, ich sei ein vielversprechendes Skitalent. Er hatte dabei übersehen, daß ich es nur deshalb so eilig hatte, weil ich nicht stoppen konnte. So nahm er mich also gleich mit seiner Meisterklasse auf eine Skitour in die Hochdolomiten mit. Als ich etliche Stunden später aus blutbespritztem Schnee gebuddelt wurde, befand ich mich am Fuß des Berges. Nach reichlicher Erster Hilfe konnte ich sogar wieder sitzen und etwas kräftigende Nahrung in Form eines doppelstöckigen Whiskys zu mir nehmen. Und der Skilehrer erwies sich als patenter Sportsmann. Er heftete mir ritterlich eine Medaille an die Brust. Sie kennzeichnete mich öffentlich als einen »Skiläufer Dritter Klasse« und wurde augenscheinlich auf der gleichen Basis verliehen wie die Fallschirmjäger-Urkunde: nur wenig schlechter, und ich wäre tot gewesen!

Der Junior-Fußballtrainer in West Point gab mir keinen Whisky. Statt dessen befahl er mir den geschlagenen Nachmittag lang, Bälle anzunehmen, Hintermänner abzuschütteln und Paßbälle von den verschiedensten Teilen meiner Anatomie abprallen zu lassen, hauptsächlich von der Bauchgegend. Als ich in Richtung Umkleideraum davonhumpelte, schien er einen Augenblick milder gestimmt zu sein, und ich war ehrlich gerührt, als er hinter mir her brüllte: »Das war das letztemal, daß Sie Fußball gespielt haben! Morgen können Sie wieder die Turner beglücken!« Einige weitere Wochen verstrichen. Schon begann ich zaghaft zu hoffen, die irregeleiteten Enthusiasten endgültig abgeschüttelt zu haben, als der Adjutant eines Tages beim Lunch laut und deutlich die fatalen Sätze wiederholte: »Kadett Thayer hat sich heute auf dem Fußballplatz zu melden.« Ich hielt es zuerst für einen Irrtum und überlegte nur, ob ich den Befehl ignorieren oder die Sache klären sollte. Da aber Befehl-Ignorieren in West Point ein ziemlich gefährlicher Sport ist, sprach ich den Adjutanten nach dem Lunch schüchtern an: »Entschuldigen Sie, Sir, ist dieser Befehl nicht vielleicht ein Irrtum? Sie haben mir vor drei Wochen dasselbe gesagt, und ich denke…«

»Zum Teufel! Haben Sie immer noch nicht gelernt, daß »Schnappsäcke« keine Fragen zu stellen haben? Und außerdem, wissen Sie immer noch nicht, was geschieht, wenn »Schnappsäcke« anfangen zu denken?«

Es war eine Standardfrage, und pflichtschuldigst murmelte ich die festgesetzte Antwort: »Doch, Sir! Sie bringen alles durcheinander.«

So fand ich mich zum drittenmal bei der Fußballabteilung wieder. Diesmal begrüßte mich der Obertrainer persönlich und klopfte mir wohlwollend auf den Rücken.

»Ich hab’ gestern noch mal die Stammrollen durchgesehen«, sagte er, »und stieß auf Ihren Namen. Sind Sie nicht der Bruder vom letztjährigen Meisterspieler?«

Ich gab es zu.

»Na, wenn ich mir überlege, daß wir Sie die ganze Zeit übersehen haben! Laufen Sie mal flott zum anderen Ende ‘rüber und zeigen Sie uns, was ihr Thayers könnt. In der Zeit von Null Komma nichts haben wir Sie in der ersten Mannschaft! Sie sind ein bißchen leicht, aber das gibt sich hier schnell genug.«

Daß Protestieren nichts half, hatte ich mittlerweile gelernt und ging gehorsam auf meinen Platz. Inzwischen waren auch die letzten Nieten aus den Mannschaften heraustrainiert. Die Mannschaften bestanden jetzt ausschließlich aus zweihundertpfündigen Gorillas, deren einziger Ehrgeiz es zu sein schien, ihren Kollegen das Lehen so ungemütlich wie eben möglich zu machen. Meine Abneigung gegen sie schwoll rapide an. Diesmal war mein Auftritt kürzer, aber unzweifelhaft viel intensiver als bei den bisherigen Gelegenheiten. Einige Sätze lang schaffte ich es, mit nicht mehr als einigen Schrammen im Gesicht, einem gequetschten Schienbein und einer verrenkten Schulter durchzukommen, und fing bereits an, das Leben charmant zu finden. Dann kollidierten zwei meiner strammeren Kollegen, in entgegengesetzter Richtung rennend, mit meinem linken Bein. Mein Knöchel — das einzige, was nachgeben konnte — gab nach.

Der Sportarzt warf einen Blick darauf und wandte sich an den Obertrainer:

»Kein Fußball mehr für diese Saison.«

Der Obertrainer murmelte etwas Ähnliches wie »zu schade«, doch schloß ich aus der Art, in der er es sagte, daß er nicht ganz so enttäuscht war, wie er noch vor wenigen Stunden gewesen wäre. Vielleicht begriff er allmählich, daß Fußballspielenkönnen eine erworbene und keine ererbte Fähigkeit ist.

Zuletzt versuchte ich es mit Polo. Geritten hatte ich seit frühester Jugend, und der Polotrainer glaubte einige Möglichkeiten in mir zu entdecken. Jedenfalls stand mein Name ganz unten auf der bald darauf veröffentlichten Liste der Polomannschaften. Für den Rest der vier Jahre blieb Polo meine einzige sportliche Betätigung. Bälle traf ich auch hier nicht, aber ich konnte reiten und verbrachte die meiste Zeit damit, Ponys zu trainieren. Schließlich bekam ich sogar — wiederum aus rein altersmäßigen Gründen — einen Schein, der mich wenigstens in den Augen meiner Familie rehabilitierte. Aber es war ein »kleiner«, kein »großer« Schein, der annähernd mit einer »Dritte-Klasse-Fallschirmspringer«-oder einer »Dritte-Klasse-Skiläufer«-Bescheinigung übereinstimmte.

Obgleich Fußball und Polo in jenen frühen Tagen meine Hauptsorge waren, wurden wir nebenbei noch mit einer Anzahl mehr oder weniger unerfreulicher Pflichten muntergehalten. Man versuchte, uns Marschieren, Exerzieren, Bettenbauen und den Waffengebrauch beizubringen, und quälte uns zugleich mit einer lärmenden Form von Disziplin, die zwar schnelle Resultate hervorbrachte, jedoch lebhafte Zweifel am Geisteszustand unserer Lehrmeister in uns wachrief. Sie bestand hauptsächlich aus ohrenbetäubendem Gebrüll der Ausbilder und heilloser Konfusion bei den »Schnappsäcken«. Wurde die Verwirrung bei einem »Schnappsack« zu groß, so war er »zurückgeblieben«, war sie nicht groß genug, so galt er als »vorwitzig« — und das war noch schlimmer! Nach und nach lernten wir freilich, uns auf dem goldenen Mittelweg zu halten, und als im Herbst der Lehrgang auf der Akademie begann, waren wir gegen den polternden Wortschwall unserer Vorgesetzten weitgehend immun — obgleich wir es nicht zeigen durften.

 

Ich will nicht gerade behaupten, der Lehrplan von West Point sei ausgerechnet auf die Vorbereitung zum diplomatischen Dienst abgestimmt. Letzten Endes soll der Diplomat schwelgen, wo der Soldat vegetiert — wenn es nicht gerade umgekehrt ist. Der Kursus bestand zur Hauptsache aus Mathematik und deren verschiedenster Anwendung auf Physik, Ballistik und Pionierdienst. Ihre Anwendungsmöglichkeiten auf die Diplomatie blieben lange Zeit hindurch unklar, doch schließlich bewiesen Differentialrechnung und Rechenschieber ihre Unentbehrlichkeit sogar in der verfeinerten Atmosphäre einer Botschaft.

Gute zehn Jahre nach dem letzten Blick auf eine Logarithmentafel war ich in Afghanistan mit der Einrichtung einer neuen Botschaft beschäftigt. Als Wohnung für den zukünftigen Botschafter hatte man uns ein schönes Steinhaus angewiesen, doch waren keine ordentlichen Büros vorhanden. Viele der in Afghanistan angestellten ausländischen Techniker und Architekten waren wegen des Krieges in ihre Heimat zurückgekehrt. Die verbleibenden Fachkräfte hatten infolgedessen wesentlich lebenswichtigere Funktionen zu versehen, als den Amerikanern ihre Raumsorgen abzunehmen. So dauerte es nicht lange, bis mein West-Point-Zeichenbrett aus dem Koffer gezogen wurde und ich mit Reißschiene und Lineal die wohl einzige Kanzlei des US Foreign Service entwarf, deren Architekt ein Legationssekretär ist. (Zufällig hat das Büro des Legationssekretärs die bei weitem schönste Aussicht und ist das größte und bequemste der ganzen Kabuler Botschaft.)

Doch dann entstand ein neues Problem. Die Wohnung des Botschafters enthielt ein riesiges Speisezimmer, über dem sich im zweiten Stock ein Schlafzimmer von gleichem Umfang befand. Selbst für den Geschmack eines wahren Fürsten unter den Botschaftern war es ein bißchen zu groß. Wir entschlossen uns kurzerhand, es in zwei Räume aufzuteilen. Ortsansässige Maurer bauten im Handumdrehen eine gute, solide Ziegelmauer mitten hindurch. Peinlich war nur, daß wir weder das Gewicht der Steine noch die Stärke der hölzernen Balken in der Speisezimmerdecke in Rechnung gezogen hatten. Bald schon bot die Decke einen leicht überanstrengten Eindruck. Sie sackte durch. Dicke Risse entstanden. Alle waren sich einig, daß die hübsche neue Teilungsmauer oben bald im Speisezimmer unten landen werde, falls nicht umgehend etwas geschah. Da aber keine Architekten oder Ingenieure zu bekommen waren, mußten der Hauswirt und ich uns wieder allein dem Problem gewachsen zeigen. (Zufällig war der Hauswirt im Nebenberuf Kriegsminister. Später wurde Seine Königliche Hoheit Schah Mahmud Khan Afghanistans Premierminister.) Ich schlug vor, einen Stahlträger einzuziehen. »Einen Stahlträger in Kabul?« fragte Seine Königliche Hoheit entsetzt, »ja, wo sollen wir den herholen?«

Sein Majordomus, ein pfiffig dreinschauender Bursche namens Ahmed Jan, dessen Findigkeit größer war als seine Schulbildung, fiel ihm ins Wort:

»Ich werde Ihnen einen Eisenträger besorgen. Kleinigkeit! Warten Sie nur ein paar Minuten.«

Ahmed Jan verschwand im Wagen Seiner Königlichen Hoheit und tauchte eine knappe halbe Stunde später wieder auf. Hinter sich her schleppte er etwas, das zweifellos nach einem Unterzug aussah. Bei näherer Betrachtung erwies es sich als eine der alten Schienen von Afghanistans ehemaliger Eisenbahn. (Neben seinen mannigfachen anderen einzigartigen Qualitäten ist Afghanistan, soweit ich es übersehen kann, auch das einzige Land der Erde, das eine Eisenbahn gehabt hat. Ein paar Länder haben keine Eisenbahn. Die meisten haben eine. Afghanistan aber hat eine gehabt und sie wieder ausgerissen. Sie war nicht sehr lang — etwa drei Kilometer — , doch die Stammesfürsten und die Mullahs waren entschieden der Ansicht, sie sei ein Schritt in eine verderbliche Richtung. Ergo montierten sie die Bahn ab, vertrieben König Amanullah, der sie erbaute, und wählten sich einen anderen König.)

Beim Anblick der Schiene machte ich die Bemerkung, sie sei für unsere Zwecke wohl nicht stark genug. Schah Mahmud hob die Arme in Verzweiflung, setzte sich in seinen Wagen und brauste davon. Der Majordomus war über meine Kritik etwas niedergeschlagen und ziemlich erbost. Spöttisch erkundigte er sich, woher ich denn wisse, daß sein Unterzug zu leicht sei.

»Ich bin gelernter Techniker«, erwiderte ich hochmütig. »Ach, und alle gelernten Techniker erkennen die Stärke von Stahlträgern durch einfaches Hinsehen? Ich dachte immer, sie müßten sie messen und ein paar Berechnungen machen, um sicherzugehen. Aber vielleicht sind amerikanische Techniker anders«, schloß er sarkastisch.

Beleidigt, wütend und durch und durch enttäuscht ging ich heim. Am Abend fiel mir auf einmal ein, daß meine alten Fachbücher über Technik und Ingenieurwesen bei all den anderen unnützen Büchern aufgestapelt sein mußten, die ich nun schon seit zehn Jahren auf Kosten der Regierung rund um den Globus schleppte. Also begann ich, die Belastungsgrenze einer Schiene von Exkönig Amanullahs ausgerissenem Schienenstrang zu berechnen. Es dauerte ungefähr eine Woche, bis ich meine Rechenkünste genügend aufgefrischt und die Kalkulation erstellt hatte. Eine weitere Woche verwandte ich darauf, die richtigen Formeln für Stahlunterzüge zu entdecken. Ob ich tatsächlich die richtigen erwischt habe, ist mir bis heute nicht ganz klar, doch kam ich damals zu dem Ergebnis, daß eine Eisenbahnschiene ungefähr einem T-Träger entspricht. Inzwischen sackte die Eßzimmerdecke von Tag zu Tag gefährlicher ein. Es war ein Wettrennen mit der Zeit und dem Mauerwerk im zweiten Stock. Mit sophistischen Tüfteleien über Formeln durfte keine Minute verloren werden.

Also machte ich den Schlußstrich unter die Gesamtkalkulation und stellte zu meiner äußersten Verblüffung fest, daß die Schiene — vorausgesetzt, es wurde in jedem Schlafzimmer nicht mehr als ein Elefant gehalten — völlig sicher war. Da es nun zu jener Zeit in ganz Kabul nur einen einzigen Elefanten gab, der zudem wenig in Häuser kam, weil er die Walze zum Ebnen der Palasteinfahrt zog, hatte Ahmed Jan offensichtlich recht. Ich überflog meine Berechnungen noch einmal und ließ ihn holen. Höflich starrte er auf die drei Notizbücher füllenden Zahlenreihen, die ich ihm voller Stolz zeigte. Seine eigenen Rechenkünste beschränkten sich auf einfache Additionen, doch als ich bis zu dem Punkt mit den zwei Elefanten gekommen war, strahlte er, schüttelte mir wärmstens die Hand und verkündete frohlockend, daß amerikanische Techniker zwar langsam seien, doch am Ende stets die richtigen Schlüsse zögen.

Natürlich ist es durchaus möglich, daß die Kalkulationen trotzdem falsch waren, doch hält die Speisezimmerdecke in der Kabuler Botschaft, letzten Berichten zufolge, immer noch. Ich kann nur hoffen, daß sich das Differentialrechnen meinen Mitschülern im späteren Leben als ebenso nützlich erwiesen hat.

Zweifellos spielt in West Point auch die rein militärische Ausbildung eine einigermaßen wichtige Rolle, obwohl ich mich seinerzeit redlich bemühte, das zu ignorieren. Ich fürchte, auf diesem Gebiet lagen meine größten Versager. Vor allem stellten die älteren Jahrgänge einmütig fest, daß ich bei Paraden nicht Schritt halten konnte. Ich überzeugte sie zwar schließlich, daß dies nicht der Wahrheit entsprach, doch sie meinten, dann sei eben sonst was mit meinem Gang nicht in Ordnung. Nach wiederholten Versuchen, die Muskelschwäche in meiner Hinterhand zu kurieren, verbannten sie mich ins letzte Glied, wo ich vier Jahre lang blieb. Zuerst fühlte ich mich etwas beleidigt, hatte mich aber bald daran gewöhnt, ja fand auf die Dauer das Marschieren hinter meinen Kameraden sogar vorteilhaft. Inspizierende Generale entdeckten weniger leicht, daß man vergessen hatte, seine Schuhe zuzuschnüren, und wenn man bei einer Parade die Nase krauste, um einen Moskito zu verscheuchen, ertappte einen der Offizier vom Dienst nicht ganz so schnell bei einer »unbefugten, eigenmächtigen Bewegung«. Außerdem befreite es einen von der Notwendigkeit übertriebener Aufmerksamkeit während des Drills. Ein Onkel von mir, der im ersten Weltkrieg vergebens Offizier zu werden versuchte, pflegte zu sagen, nur ein Schwachsinniger könne wirklich gut exerzieren. Jeder, der auch nur den leisesten Hang zum Denken habe, werde sich unweigerlich, gerade wenn der Zugführer kommandiere: »In Linie links marschiert auf« oder »Linie rechts«, einer hochinteressanten geistigen Spekulation hingegeben haben und natürlich den Anschluß verpassen. Diese Meinung meines Onkels hat etwas für sich.

Dann gab es noch das sogenannte »soldatische Auftreten«, das eine ganz bestimmte Stellung von Schultern und Wirbelsäule erforderte. Ich habe niemals mit gerecktem Hals und entblößtem Adamsapfel ungehemmt denken können. Sobald sich wirkliche Probleme ergeben, neigen mein Kinn und meine Schultern dazu, sich nachdenklich zusammenzuziehen.

Wie ich jedoch sehr schnell lernte, war das nicht die in West Point geforderte Haltung. Als ich in diese Akademie ein trat, fiel es mir noch schwer, gegen meine Denker-Gewohnheiten anzugehen. Entweder sackte mein Kinn herunter, wenn ich dachte, oder mein Kinn stand waagerecht, und mein Geist schlief ein. Das erste Jahr war infolge dieses Dilemmas ungemütlich, bis es mir schließlich gelang, meine Energien zwischen die geistigen und körperlichen Vorgänge aufzuteilen.

Weiteren Kummer bereiteten mir die Uniformen. In West Point gibt es eine üppige Serie von Regeln, Statuten, Flaggen- und Klingelsignalen, Nachrichtensystemen und Gott-weiß-was-sonst-noch, um einem jederzeit zu sagen, welche Uniform in welcher bestimmten Sekunde gewünscht wird: jetzt etwa Reithose mit Pullover, gleich darauf weiße Hose mit langem Rock. Es vergingen Monate, ehe man die Bedeutung aller Zeichen kapierte. Weshalb freilich der Offizier vom Dienst sich grade auf die eine oder andere Uniform versteifte, ist mir stets ein Geheimnis geblieben. Den sichersten Anhaltspunkt für unsere Mutmaßungen fanden wir auf die Dauer in den individuellen Persönlichkeiten der verschiedenen Offiziere vom Dienst.

»Pete Newhy ist heute dran«, überlegte man, »schätze, das bedeutet weiße Uniform — vorausgesetzt, es regnet stark.« Oder: »Dapper Dan hat heute Dienst. Da werden wir wohl bis zum Zapfenstreich in Paradeuniform ‘rumsausen.«

Chacun à son goût.

Und dann gab es noch den West-Point-Fetischismus der Sauberkeit. Unsere gewöhnlichen Uniformen hatten vorn einen schwarzen Bortenbesatz, der meiner festen Überzeugung nach aus Chamäleonhaut gemacht wurde. Alles, was ein verärgerter, zornesroter Inspektor zu tun hatte, war, lange genug auf meinen Besatz zu starren — und prompt erschien ein großer brauner Fleck, der aussah, als ob ich Tomatensoße geschlabbert hätte. Das gleiche passierte bei Schuhen, Mützenschirmen, Gewehrläufen oder sonstigen Gegenständen, die blank und sauber sein sollten. Nicht, daß ich besonders viel gegen die Flecken an sich gehabt hätte — was mich verletzte, waren die Tadel, die sie mir zuzogen. Sobald eine gewisse Anzahl dieser Tadel vorlag, konnte man sie an einem freien Nachmittag, kreuz und quer über den Kasernenhof marschierend, ab-»arbeiten«. Nach dem Tarif: Pro Tadel eine Stunde. Viel Zeit, wenn man nach dem Stundenplan lebt! Obgleich ich es niemals fertigbrachte, die Tadel zu umgehen, entdeckte ich doch wenigstens nach einiger Zeit eine Möglichkeit, sie nicht mehr abzuarbeiten. Eine feststehende Regel erlaubte jedem, der einer Sportmannschaft angehörte, das Abmarschieren seiner Tadel bis nach Beendigung der jeweiligen Sportsaison aufzuschieben. Nun wurde aber Polo das ganze Jahr hindurch gespielt, und es glückte mir schließlich, bei dem Schreibstuben-Unteroffizier, der das Tadelbuch führte, einen dauernden Aufschub durchzusetzen. Zuerst fand er den Gedanken ein bißchen komisch und versuchte ihn mir auszureden, aber da er mein Stubenkamerad war, hatte ich massenhaft Zeit, ihn zu überzeugen. Es klappte großartig bis zum Vortag jenes Tages, an dem wir aus General MacArthurs Händen unsere Offizierspatente empfangen sollten. Irgendein übereifriger Wichtigtuer in der Schreibstube mußte im letzten Moment noch schnell die Listen kontrolliert haben und entdeckte dabei, daß ich der Akademie etwa siebenundneunzig Stunden auf dem Kasernenhof schuldete. Man rief mich herein und verhörte mich peinlichst wegen des geringfügigen Kontoüberzuges. Ich wies darauf hin, daß selbst am morgigen Festtag ein Polospiel stattfinden werde. Die Saison sei also immer noch nicht beendet, und die Regel bestünde weiter. Außerdem blieben bis zu den Abschlußfeierlichkeiten nicht einmal mehr vierundzwanzig Stunden. Wie sollte ich siebenundneunzig Stunden in weniger als vierundzwanzig Stunden quetschen? Der eklige Wichtigtuer sah zwar die Logik meiner Argumente ein, doch registrierte er die Schulden sorgfältig in meinen Akten. Vermutlich kann ich also, wenn ich pensioniert werde, nach West Point gehen, mir eine Knarre pumpen und mein Konto ausgleichen.

Bei all diesem verwirrenden Durcheinander gab es einen großen Trost: Es würde nicht ewig dauern! Sobald ich Offizier war und diese »heiligen Hallen« verlassen hatte — das schwor ich mir immer wieder — , würde ich nie mehr: meine Schuhe putzen, meine Hosen bügeln, meine Schultern zurücknehmen, Schritt halten, die Flecken vom Besatz entfernen (falls ich, was sehr unwahrscheinlich war, überhaupt einen Besatz haben sollte) oder pünktlich zum Antreten erscheinen. Mein Tag würde schon kommen!

Er kam, zwölf Jahre später in Wien. Der Krieg war zu Ende, aber ich war vorübergehend als Dolmetscher für General Mark Clark wieder zur Armee abkommandiert. Die alliierten Marschälle und Generale feierten sich gegenseitig unaufhörlich mit Paraden, Ehrenkompanien und Banketten. Zu meinen Pflichten als Dolmetscher gehörte es, den General zu allen Zeremonien zu begleiten, an denen seine russischen Kollegen teilnahmen. Eines Tages besuchte er mit seinem Stellvertreter, General Al Gruenther, seinem politischen Ratgeber, Jack Erhardt, seinem Adjutanten, seinem Fotografen, seiner Ordonnanz und mir den Marschall Konjew in seinem Hauptquartier in Baden bei Wien. Die Geschäfte wurden mit der für General Clark charakteristischen Geschwindigkeit erledigt, und ehe wir uns recht versahen, steckten wir schon mitten in einem der üblichen interalliierten Bankette. Es war noch während jener Periode kurz nach der deutschen Übergabe, in der jeder Offizier und Soldat seinen entscheidenden Anteil am Sieg dadurch zu beweisen glaubte, daß er seine Verbündeten unter den Tisch trank. General Clark glaubte zwar nicht, er müsse genausoviel trinken können wie alle anderen Versammelten, aber er glaubte an die Notwendigkeit, die Form zu wahren. Ich hatte dafür zu sorgen, daß sein Wodkaglas jedesmal mit Wasser gefüllt wurde. Nun habe ich aber keine sehr geschickten Hände, und die einzig mögliche Methode, General Clark vorschriftsmäßig mit Wasser zu versorgen, bestand darin, daß ich mein eigenes Wodkaglas gleich nach dem Einschenken austrank, es mit Wasser füllte, gegen Clarks Wodka austauschte und diesen ebenfalls trank, ehe ein scharfsichtiger Sowjetgeneral das Manöver durchschaute. Die Einzelheiten jener Nacht in Baden können wir überschlagen. Wir müssen sie sogar überschlagen, denn aus irgendeinem dummen Grund läßt mich mein Gedächtnis an diesem Punkt immer im Stich.

Am nächsten Morgen wurde ich im ersten Frühdämmer unsanft aus meiner Koje gezerrt. General Clark habe die Herausforderung zu einem Schwimmwettkampf mit Marschall Konjews Stellvertreter, General Scholtow, angenommen, teilte man mir mit. Das Wettschwimmen fände im Schwimmbad in Baden statt.

Sterbensübel schleppte ich mich hinter Clark zum Bassin hinunter, das nach den stolzen Versicherungen der Sowjets hundert Meter lang war. Die konkurrierenden Generale hatten sich bald umgezogen und trabten am Rande des Schwimmbassins auf und ah, wie zweijährige Rennpferde im Sattelplatz in Saratoga. Dann erblickte mich Clark im Hintergrund.

»Vorwärts, Thayer! So beeilen Sie sich doch um Gottes willen! Ziehen Sie schleunigst die Badehose an!« (Schon wieder falsche Uniform.)

»Aber, Herr General, ich will ja gar nicht schwimmen — zumindest nicht heute morgen

»Ach, verdammt, hören Sie auf zu quatschen! Haben Sie mich verstanden?«

Ich bin kein besserer — vermutlich sogar ein etwas schlechterer— Schwimmer als Fallschirmjäger, Fußballer oder Skiläufer. Mein Stil soll zwar so übel nicht sein, aber mein Tempo ist beklagenswert. Doch — General Clark war General Clark und außerdem alles andere als nachgiebig. Innerhalb weniger Sekunden standen wir drei nebeneinander an der Schmalseite des Bassins. Clark links, Scholtow rechts und ich in der Mitte. Sie waren übereingekommen, einmal hin- und zurückzuschwimmen.

Irgendeiner zählte: »Ras, dwa, tri.«

Ich übersetzte: »Eins, zwei, drei«, und wir stürzten uns, mehr oder weniger gleichzeitig, ins Wasser.

Bei einem Wettschwimmen werden die Generale wenigstens nicht reden, dachte ich mir zum Trost, doch da kannte ich meine Generale schlecht. Sie waren kaum gut und wohl im Wasser, als sie auch schon mit der Geschwindigkeit und Verve von Sportansagern das Ereignis kommentierten, der eine auf russisch, der andere auf englisch. Ich befand mich gleich weit im Hintertreffen und konnte sie kaum noch verstehen, geschweige denn mit ihnen sprechen. Auf einmal jedoch vernahm ich einen Strom goldener Worte: General Clark erkundigte sich, wozu — beim Satan — ich hier zu sein glaube. Ob ich gefälligst General Scholtow mitteilen möchte, General Clark finde, er habe einen ausgezeichneten Crawlstil. Ich öffnete den Mund, um es Scholtow zuzubrüllen, aber der Wellenschlag eines der Generale schwappte mir ins Gesicht, und das einzige, was ich hervorbringen konnte, war ein Mundvoll Wasser. Ich versuchte es noch einmal.

»General Clark sagt

Jetzt war zur Abwechslung Scholtow beleidigt. »Ich habe Ihnen schon zweimal aufgetragen, General Clark zu sagen, daß seine Beinarbeit sehr gut ist.«

Ich schrie in Richtung Clark: »Der General sagt, Ihr Bein...«, und wieder erwischte mich eine Welle.

»Zum Teufel, was ist denn an meinen Beinen falsch?«

Ich schnappte nach Luft: »General Scholtow sagt...«

»Mir verdammt egal, was General Scholtow sagt! Was haben Sie da eben für eine blöde Bemerkung über meine Beine gemacht?«

»Das war General Scholtow...« Doch inzwischen hatten sie das Ende des Bassins erreicht und schwammen bereits wieder auf mich zu. Auch bei ihnen machten sich jetzt die Anstrengungen der letzten Nacht bemerkbar, und sie sparten die Luft für Wichtigeres. Ich strampelte bis zum Bassinende, kroch hinaus und lag erschöpft, durchweicht und hundeelend auf der Zementeinfassung. Ich habe nie erfahren, wer gewonnen hat. Ehrlich gestanden: Es war mir auch Wurscht.

Die meisten Schwierigkeiten erwuchsen mir bei General Clark aus dem Versuch, bei jeder Feierlichkeit die gleiche Uniformart zu tragen wie er. Es war wie eine Wiederholung meiner Kadetten tage: Auch hier hatte ich niemals vollen Erfolg. Einen Adjutanten hundertmal zu fragen: »Was wird der General beim Interview tragen?« war sinnlos, denn unweigerlich änderte entweder Clark im letzten Moment seinen Entschluß, oder meine Breeches waren in der Reinigung, oder es kam sonst etwas dazwischen. Er sah mich jedesmal kurz an, betrachtete mein jeweiliges Kostüm kritisch von der Mütze bis zu den Schuhen, schüttelte verdrossen den Kopf und seufzte ärgerlich: »Thayer, wann endlich werden Sie mal...« und so weiter.

Bald nach dem Wettschwimmen erwiderte Marschall Konjew Clarks Besuch. Die übliche Ehrenkompanie sollte abgeschritten werden, und ich stellte Clarks Adjutanten die übliche Frage: »Welcher Anzug ist für die Festivitäten befohlen?«

»Felduniform«, war die Antwort. Dabei habe ich Felduniform immer besonders gehaßt, weil meine Eisenhower-Bluse dauernd hochrutschte, sich höchst unmilitärisch vor der Brust bauschte und zwischen Koppel und Hose eine gähnende Kluft auf riß. An jenem Tage achtete ich sorgfältig darauf, daß die Bluse gut gebügelt war und alle Schnallen beim Ankleiden eng schlossen. Nichtsdestoweniger fühlte ich sie schon wieder hochkriechen, ehe ich den General überhaupt sah.

Ich hatte Clark drei Minuten vor Konjews Ankunft auf den Stufen vor dem Hauptquartier zu treffen. Der General war vor mir da, jeder Zoll ein Soldat, doch unglücklicherweise in Rock und lange Hose gekleidet. Meine Feldbluse machte einen letzten Satz und endete oberhalb des Magens. »Thayer, um Himmels willen, können Sie denn niemals...« und so weiter.

Die drei Minuten dehnten sich schier endlos, doch schließlich erschien Konjew, General Clark stoppte seine Kommentare über meinen Anzug, und wir setzten uns auf die Ehrenkompanie zu in Bewegung. Der Marschall und der General schritten voran (ich pflegte sie meine Minenräumer zu nennen), ihre Brust funkelnd im Glanz der Orden und Schärpen, ich hinterher, vor der Brust eine zerknautschte Masse Eisenhower-Bluse. Wir schritten die Front einmal ganz ab und dann zurück bis zur Mitte. Die Wache präsentierte das Gewehr. Die Kapelle spielte »The Star-Spangled Banner«. Der General und der Marschall salutierten, ich tat dasselbe. Als die Kapelle endete, entstand eine Pause. General Clarks Hand löste sich langsam von der Feldmütze. Von hinten sah ich, wie er einen verstohlenen Blick auf Konjew warf, der immer noch salutierte. Schleunigst fuhr auch Clarks Hand wieder an den Mützenrand. Die Pause wurde länger, und Konjews Hand begann langsam zur Seite zu fallen. Dann schielte er zu dem unbeweglich stehenden Clark hinüber und — husch — war der Arm zurück. Immer noch geschah nichts, nur die beiden Hände sägten abwechselnd auf und ab, vom Kopf bis zur Seitennaht. Endlich wurde es Clark zu dumm. Er schwenkte auf den Absätzen zu mir um.

»Verdammt noch mal, Thayer«, quetschte er zwischen den Zähnen heraus, »verdammte Schweinerei, Thayer! Die Kerls sollen spielen, verflucht noch mal. Musik, Musik!« Während er sprach, beugte ich mich vornüber und hauchte in meinem allermilitärischsten Ton: »Jawohl, Sir!« Mich daraufhin selber zurückneigend, flüsterte ich einer hinter mir stehenden Gruppe von Stabsoffizieren, die dem ganzen Vorgang interessiert gefolgt waren, zu: »General Clark sagt: »Musik, verdammte Schweinerei, Musik!<«

Ich konnte verfolgen, wie der Befehl bis zum Musikmeister weitergegeben wurde. Dann endlich schmetterte die Kapelle los. Sobald ihn der erste Ton erreichte, entschied sich Clark endgültig, und seine Hand fiel erlöst herunter. Ich wollte es ihm gerade nachmachen, da ich meinen Vordermann — wie man es mir in West Point beigebracht hatte — immer blindlings imitierte. Da aber kam plötzlich ich an die Reihe zu handeln, und meine Hand schoß zurück an die Mütze. Clark sah die Bewegung aus den Augenwinkeln. Gänzlich verwirrt, schwenkte er wieder auf den Absätzen zurück:

»Verdammt noch mal, Thayer — zum Teufel, was spielen die Kerls denn da?«

»Die sowjetische Nationalhymne, Sir«, entgegnete ich so bescheiden, wie ich unter den Umständen nur eben konnte. Clarks Hand folgte der meinen an die Mütze.

Es gibt eben ein paar militärische Zwickmühlen, in die sogar Generale geraten können.